Vielleicht war er tatsächlich ganz froh, mich dort oben zu wissen. Der Herr mochte es nicht, wenn ich herunterkam. „Auf deinen Platz, Narr, auf deinen Platz“, und ich duckte mich unter den Buckel und stieg auf den Sims. Er wollte mich nicht in seiner Nähe haben. Ganz gleich, wie betrunken er war, um mich machte er stets einen Bogen. Der Venezianer lachte, als ich ihm davon erzählte. „Natürlich, Närrchen, er fürchtet sich vor dir. Wie alle Herren fürchtet er sich vor dem Narren, nicht wegen des Buckels, wie die anderen Leute, sondern wegen der Lieder.“- „Die Lieder“, sagte der Venezianer, „sind mächtig, mein Freund, mächtiger als die Herren. Sie lassen sich nicht besiegen.“ Immer wieder hab ich an diesen Satz gedacht, den Satz von den mächtigen Liedern, und hab ihn doch nicht verstanden. Erst jetzt, Marie, wo alles vorbei ist, jetzt weiss ich: Es war keine Verheißung, was der Venezianer mir sagte, es war eine Warnung – und ich verstand sie nicht.
Der Narr
Details
- Herausgeber: Nagel & Kimche
- Erscheinungdatum: 1. August 2004
- Hardcover: 188 Seiten
- ISBN: 978-3833415906
Rezensionen
„Gabrielle Alioths Narr könnte ein philosophischer Grenzgänger unserer Tage sein, vielleicht ist es neben den historischen Parallelen und der Dichte der Sprache auch dieser Aspekt, der das Buch so lesenswert und faszinierend macht. Und letztendlich ist es sicher auch der Lebensraum der Schriftstellerin: denn wenn der Narr seinen Blick über das Land schweifen lässt, entsteht vor dem geistigen Auge des Lesers die Landschaft Irlands. Ein wunderschönes Buch, das auf weitere Werke dieser Schriftstellerin hoffen lässt.“
„Gabrielle Alioth hat ihre Bilderwelt mit der Patina eines scheinbar längst entschwundenen Zeitalters überzogen. Deutlich regiert ein starkes ästhetisches Empfinden, welches beinahe zum Selbstzweck zu verkommen droht, wären da nicht einzelne Szenen des Schreckens, die noch eine andere Wahrheit freilegen.“
„Die Motive des Romans sind erstaunlich, der Zugriff der jungen Autorin auf die Narrenperspektive und das Mittelalter, auf die Mauerkälte und die Monotonie des Burglebens verblüffend. (… ) Behutsamkeit ist kennzeichnend für das Buch; dessen konzentrierte Stille übt eine Sogwirkung aus, die eine ganz besondere Atmosphäre über die Lektüre legt. Doch diese Atmosphäre, die etwas Abgehobenes und mitunter etwas beinahe Mystisches mit sich bringt, macht auch misstrauisch: Die sprachliche und schreibtechnische Perfektion sowie die Abgewogenheit der Motive muten bisweilen geradezu klassisch an, so dass die Vermittlung von aktueller gesellschaftlicher Bedeutung sekundär bleibt. Trotzdem ist „Der Narr“ ein hervorragendes Stück Literatur, das neugierig macht auf hoffentlich weitere Werke dieser vielversprechenden Autorin.“